Öffentlicher Disskussionsabend "Befindlichkeiten vor und nach der Wahl"

Zum gestrigen Abend lieferte unser Br. Wolfgang Heilmann einen gewohnt präzisen Blick auf die Em- und Be-Findungen vor sowie nach der Bundestagswahl vom 24. September. Er vermittelte seinen ganz persönlichen Eindruck mit Erwartungen und Enttäuschungen und gab seine eigene Haltung wieder. Anhand dieses einleitenden Vortrages konnten wir Teilnehmer unsere eigenen politischen Befindlichkeiten reflektieren und mit den anderen teilen, Meinungen austauschen und neue Erkenntnisse gewinnen. Den Vortrag in seiner Gänze können Sie hier nachlesen oder herunterladen.

 

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Es soll selbstverständlich nicht um Parteipolitik gehen, sondern um die Befindlichkeiten in unserem Land vor und nach der Wahl vom 24. September. War der bisherige Weg richtig, wohin soll ein neuer führen? Welche Werte bewegen uns und sollen wie in der Politik wieder gespiegelt werden? Empfindet ihr wie ich die Bundesrepublik als im demokratischen Dornröschenschlaf verhaftet? In einem ideologischen Vakuum? Deutschland steht wirtschaftlich gut da, Bruttosozialprodukt, Exportquoten, Steueraufkommen, alles im tief grünen Bereich. Eine der führenden Wirtschaftsnationen, absolut führend in der EU. Politisch kein Weltgewicht, aber Kraft unserer Kanzlerin durchaus reputierlich. Der Deutsche fühlt sich wohl. Fußball-Weltmeister, Bundesliga, Berlin Tag und Nacht, Konsumglück für jedermann, einschließlich der Selbstbestätigung in der schönen virtuellen Welt von Facebook, Amazon und Apple. Was will man mehr? Politisches Engagement? Überschaubar! Beteiligung an der politischen Meinungsbildung? Wer hin und wieder Hart aber Fair, Maischberger oder Anne Will an sich vorbeirauschen lässt, ist schon aktiver als der Durchschnitt. Politische Meinungsbildung wenigstens im Bundestag? Fehlanzeige! Die Art und Weise wie sich die große Koalition im Bundestag generiert und wie die bisherigen Oppositionsparteien dies generös hingenommen haben, kommt einer Verweigerung der Auseinandersetzung, der Debatte, gleich. Da findet keine Kontrolle der Regierung statt, keine Entwicklung alternativer Konzeptionen, sondern lähmende Jasager Mentalität. Da sich die überwiegende Mehrheit der Deutschen permanent im Wohlfühlmodus befindet, ist auch ein Ehrgeiz der Politiker und Parteien, etwas anders, etwas Neues zu machen, kaum erkennbar. Never change a running System. Und überhaupt: Im Vergleich zu Donald Trump, Erdogan, Orban und Kascynski müssen wir uns doch wohl nicht verstecken. O. k.: Einen Emmanuel Macron können wir nicht aufbieten. Wir sind gerade dabei, das Erbe der Aufklärung zu verschenken. Der Homo Sapiens, der Homo Democratius hat sich zum Homo Consumens weiterentwickelt oder sollte man besser sagen zurück entwickelt? Unsere Welt ist unübersichtlich geworden. Probleme werden globaler, Instanzen, die darauf reagieren könnten, fehlen. Konnten wir uns früher darauf beschränken, national zu fühlen und zu denken, ist das heute nicht mehr ausreichend. Der Nationalstaat kann globale Probleme nicht lösen. Wo sind oder entwickeln sich aber neue Instanzen, die mit größerer Autorität globale Probleme auch global angehen? Unsere Gesellschaften, die technische Entwicklung, haben sich beschleunigt, werden für die meisten undurchschaubar, so dass wir dazu neigen, persönlich zu resignieren, an der Aufgabe zu verstehen, gar mitgestalten zu wollen. Es ist verführerisch, sich dem vermeintlich Unabänderlichen hinzugeben, nur noch individuelle Interessen zu verfolgen, für sich und seine Lieben zu sorgen und sich ansonsten abzufinden. Sich ins Private oder die Unverbindlichkeit der sozialen Netzwerke zurückzuziehen, auf den letztlich unzulänglichen wie unwürdigen Standpunkt: Mir geht es gut und die da oben, die es immer schon gerichtet haben, werden es auch weiter richten. Wären da nicht so lästige Irritationen wie ein neuer Atomwaffentest in Nordkorea, eine neue bitterböse und brandgefährliche Anekdote aus dem Leben des amerikanischen Präsidenten, ein Attentat mit islamistischen Hintergrund (zumindest, wenn es in Europa stattfindet) oder eine neue Asylantenwelle. Und dann noch ein Dorn im Wohlfühlbereich: die AFD. Ausgerechnet diese unsägliche Partei muss uns den Spiegel vorhalten, dass es eben nicht nur zufriedene Wohlstandsbürger durch alle Schichten unserer Gesellschaft gibt, sondern auch Wutbürger, Unzufriedene, die sich dem Diktat der political correctness verweigern, die sich zusammenrotten (früher nannte man das demonstrieren), die lautstark schimpfen, beleidigen, auch schon einmal drohen und ziemlich häufig auch, wenn es gerade schön passt, lügen. In postfaktischen Zeiten, in denen die Wahrheit keinen allgemein akzeptierten, positiven Wert mehr darstellt, die Digitalisierung jedenfalls bei politisch motivierten Fehlinformationen weit fortgeschritten ist. Und das Traurige daran ist, die AFD Wähler haben ja nicht immer und ausnahmslos Unrecht. Sie sind zu zornig, um zu schlummern, wie die Mehrheit, aber auch zu zornig, um nachzudenken, zornig, weil sie sich als relevante Bevölkerungsgruppe empfinden, zu der unserer Politik derzeit wenig mehr einfällt, als sie tot zu schweigen zu versuchen. Das wird im neuen Bundestag mit einer AFD als drittstärkster politischer Partei, mit 12,6 % Prozent AFD Abgeordneten nicht mehr möglich sein. Sicherheit und Gerechtigkeit sollten maßgebliche Wahlthemen gewesen sein. Was ist unseren Politikern dazu Kreatives eingefallen? Mindestens 15.000 neue Polizisten, woher man sie fertig ausgebildet auch nehmen mag, und irgendwelche betraglich überschaubaren aber inhaltlich nebulösen Steuererleichterungen. Den reichsten 10 % der Deutschen gehören 52 % des Nettovermögens, die gesamte untere Hälfte der Bevölkerung teilt sich zusammen ein Prozent. Kapitalerträge werden zumeist geringer besteuert als Einkünfte aus humaner Arbeit. Bei Apple hat sich Irland mit einer Körperschaftsteuer von 0,005 % begnügt, ein legitimer (?) Steuervorteil von 13 Milliarden €. In Luxemburg hat Amazon aufgrund besonderer Absprachen nur ¼ der für ansässige Unternehmen geltenden Steuern entrichten müssen. Vorteil 250 Millionen €. Die Fliehkräfte wachsender sozialer Ungleichheit - niemand bemüht sich um ein Rezept dagegen. Wir verschenken eines der zentralen Versprechen der Aufklärung: „Gleicher Respekt und gleiche Sorge für jedes Mitglied der Gesellschaft“. Die Symbiose von Wirtschaft und Politik, oder besser die Unterordnung der Politik unter die Interessen des Kapitals? Kein wirkliches Thema! Der unkontrollierte Markt ist gefährlich und der Staat impotent. Dieselaffäre, systematischer Gesetzesbruch und ebenso systematisches Wegschauen der Politik, zumindest solange es irgendwie möglich ist. Kein Thema. Gleichheit vor dem Gesetz? Das Bußgeld des einzelnen Autofahrers für einen kaputten Auspuff und der Persilschein der Autoindustrie für vorsätzlichen flächendeckenden Regelverstoß? Da ist es doch eher ärgerlich, dass in Stuttgart oder Düsseldorf die freie Fahrt für freie Dieselbürger beeinträchtigt werden könnte. Der erbärmliche Zustand unserer Infrastruktur, unserer Straßen, Autobahnbrücken, Schulen? Nicht nur die technische, sondern auch die gesellschaftliche Herausforderung digitaler Zeiten, insbesondere das Hinwegraffen von Millionen Arbeitsplätzen, die nicht alle zum Systemadministrator umschulbar sind? Die Zukunft, Angemessenheit, Finanzierbarkeit und Gerechtigkeit unseres Renten- und Gesundheitssystems? Nur auf dem Papier ein Thema, vertagt bis irgendwann, am besten nach der nächsten Wahl. Meine Befindlichkeit vor und nach der Wahl? Irgendwo zwischen Ärger, Besorgnis und Hoffnung? Braucht es wirklich weltweit Autokraten und Rechtsradikale, um uns aus dem demokratischen Tiefschlaf auf zu schrecken? Was für ein Unterschied zwischen Deutschland und Frankreich! Die Franzosen haben sich mit erstaunlicher, bewundernswerter Mehrheit gegen das Weiter so entschieden, die in Jahrzehnten erstarrten, vorgeblich staatstragenden Parteien gnadenlos abgestraft und einen politischen Neuanfang gewagt, der entschiedener kaum ausfallen konnte. Erwartung, Hoffnung und Mut. Wir Deutschen sind hierfür zu verzagt, aber die Richtung beginnt zu stimmen. Merkels Politikstil der Verweigerung der politischen Auseinandersetzung, wurde auch bei uns ein „nicht weiter so“ entgegen gesetzt. Noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik wurden die beiden sogenannten Volksparteien zusammen so drastisch abgestraft, weil es vielen Wählern scheint, als hätten die Christdemokraten wie die Sozialdemokraten den Kontakt zu weiten Teilen des Volkes verloren. Die große Koalition hat die Gegenwart eher schlecht als recht verwaltet. Zukunftsgestaltung hat nicht stattgefunden. Von Visionen möchte man gar nicht reden, das wäre ja fast schon revolutionär, umstürzlerisch. Noch nicht einmal die uns Deutschen traditionell zugetraute administrative Kompetenz konnte überzeugen. Jedem Schüler sein Ipad, anstatt Schulen zu sanieren, in Anbetracht deren gegenwärtigen baulichen Zustandes man sich als Eltern nur schamvoll abwenden kann, als Schüler lieber einhält, als vorhandene sanitäre Einrichtungen zu nutzen, die eher an ein Bürgerkriegsszenario erinnern. Digitalisierung von Schülern, denen es zuvörderst an Lehrern fehlt. Lehrern, deren Zeitarbeitsverträge dann bitte nicht zu Beginn der Sommerschulferien enden und nach dem Ende der Schulferien wieder verlängert werden. Freie Fahrt für freie Bürger im Dauerstau. Marode Straßen, noch marodere Autobahnbrücken, eine Sachausstattung der Bundeswehr, die allenfalls bruchstückhaft und bedingt einsatzfähig zu sein scheint., eine jahrelange personelle Auszehrung unserer Polizei bei gleichzeitiger Erweiterung ihrer Aufgaben, eine fast schon faszinierende Unfähigkeit in der Kooperation unserer Sicherheitsbehörden, vom Fall Amri für einen kurzen Blitzlichtmoment erhellt, ehe sie wieder in eifersüchtig gewahrter föderativer Vielfalt untergeht. Der Flughafen unserer Hauptstadt, der fast schon eine Utopie darstellt, anstatt eine überfällige, technisch und administrativ zu bewältigende Infrastrukturmaßnahme. Oder wenn man des viel gelobten Sozialstaates bedarf und sich 3 Monate bis zum Erlass eines simplen Hartz IV Bescheides gedulden und durchhungern muss. Und das alles ist nur schlichtes Verwalten der Gegenwart, ohne Innovationen, die des Namens wert wären. Digitalisierung oder Industrie 4.0, auch so ein allgegenwärtiges Wahlkampfschlagwort. Macht sich irgendjemand da oben irgendwelche Gedanken darüber, was die 4. industrielle Revolution für unsere Arbeitsmärkte, sozialen Strukturen, die Stellung des Menschen in der Gesellschaft bedeutet? Natürlich müssen wir im globalen Wettbewerb bestehen, natürlich lassen sich mit Industrie 4.0 noch mehr Unternehmensgewinne und Exporterfolge erzielen, möglicherweise auch das Steueraufkommen weiter erhöhen. Alle bisherigen Gesellschaftsformen basieren auf Gemeinschaften, in denen der einzelne nach seinen Fähigkeiten am Erfolg des Gemeinwesens partizipiert. Der Wert des einzelnen für die Gemeinschaft und damit auch sein Selbstwertgefühl werden dadurch bestimmt, was er leistet, dass er leistet. Schon die Jäger und Sammler bezogen ihre Bestimmung aus den Aufgaben, die sie für die Gemeinschaft zu erfüllen hatten. Was machen wir mit den Menschen, die im Rahmen der 4. industriellen Revolution überflüssig werden? Es reicht sicherlich nicht aus, ihnen ein wie auch immer zu finanzierendes Bürgergeld bzw. bedingungsloses Grundeinkommen zu verschaffen. Die Bedeutung von Beschäftigung geht über die einer gängigen (nicht unbedingt der erfolgreichsten) Erwerbsquelle hinaus. Welchen Sinn, welche Bestimmung möchten wir einem Millionen starken Bürgergeld-Prekariat geben? Panem et circenses? Grundeinkommen und Bundesliga, sowie ein erweitertes Spektrum gesellschaftlich gebilligter, zulässiger Drogen? Da fallen mir einige Zeilen aus Casper‘s „Hinterland“ ein: „Willkommen zu Haus wo jeder Tag aus Warten besteht und die Zeit scheinbar nie vergeht. Man gibt uns gut zu verstehen, die leeren Gläser der Theke sind beste Lupen aufs Leben“ Seit vielen Jahren ist bekannt, dass unser gewohntes Rentensystem kollabieren wird. Die Erwartungen des Generationsvertrages sind angesichts unserer demographischen Entwicklung hinfällig. Der Jurist würde es Wegfall der Geschäftsgrundlage nennen. Wann beginnt die Politik ernsthaft nach Alternativen zu suchen, darüber zu diskutieren, Zukunft zu gestalten mit gerade bei der Altersversorgung langen Vorbereitungs- und Umstellungsperioden, anstatt an kleinen Stellschrauben einer längst veralteten Maschine zu drehen. Befindlichkeiten vor der Wahl? Unbehagen in Anbetracht des Versagens, der Unterlassungen bereits in Bereichen der alltäglichen Administration. Sorge vor dem allgegenwärtigen naiven Mantra: „Uns geht es gut, besser als unseren Nachbarn, also machen wir am besten weiter so, wie bislang auch“. Zorn über den verengten, soweit überhaupt vorhandenen Blick in die Zukunft. In einem unserer Rituale heißt es „Stillstand ist in geistigen und sittlichen Beziehungen undenkbar. Hier gibt es nur Fortgang oder Rückgang.“ Diesem Stillstand gilt es in unseren Demokratien und bei unseren Repräsentanten zu begegnen. Befindlichkeiten nach der Wahl? Der Wähler hat die große Koalition abgestraft, mit einem Minus von mehr als 13 % der Wählerstimmen bei einer leicht gestiegenen Wahlbeteiligung von 75 %. Das Parteienspektrum wurde erweitert: Die Rückkehr einer alten Partei als durchaus gelungene Einmannschau, aber letztendlich alter Wein in neuen Schläuchen. Eine neue, rechtspopulistische Partei, mit sehr alten Ideen, die wir Kinder der Aufklärung leichtfertig als im vergangenen Jahrhundert endgültig entzaubert geglaubt hatten, Ideen, deren erneuter Vormarsch ins Parlament bei uns deutlich länger gedauert hat, als bei unseren europäischen Nachbarn. Ist das nun ein Aufbruch? Ein 1. Schritt zu wirklicher Veränderung? Die Hoffnung stirbt zuletzt, doch der Zweifel bleibt. CDU/CSU, SPD, Grüne und auch die Liberalen waren bislang die Repräsentanten des: Uns geht es gut, lieber keine Experimente, die Zukunft wird uns auch weiter so belohnen, wie wir es unserer Prosperität und der Tüchtigkeit und politischen Pflege unserer Unternehmen verdanken. Mehr als 73 % (CDU, SPD, FDP, Grüne) haben das Weiter so gewählt, gegen den Mut zum Neuen, zu wirklicher Veränderung gestimmt. Das hat nichts mit wirklicher, mit durchdachter Zufriedenheit zu tun, sondern mit Angst vor Veränderung, dem Ungewohnten. Die Franzosen wollen es Besser haben, die Deutschen nicht Schlechter. Wer Entwicklung will, braucht neue Besen, wen die Angst vor Rückschritt lähmt, der bleibt beim gewohnten Personal. Ein Christian Lindner ist zweifellos ein Gewinn aber kein Emmanuel Macron. Die Linken sind und bleiben erstarrt in antiquierten Klassenkampfvorstellungen, die durchaus eine Modernisierung verdienen würden und müssen sich als Fundamentalopposition ausgerechnet von einer AFD überholen lassen. Populismus ist nicht mehr wirklich rechts oder links. Er fischt jedoch immer im selben trüben Gewässer. Wir haben es immerhin 72 Jahre geschafft, nationalsozialistisches Gedankengut aus dem Parlament zu halten, die Erinnerung an das tausendjährige Reich und den Holocaust als „Denkmal der Schande“ zu bewahren. Wir müssen damit leben, dass Gesellschaften, eben auch Demokratien, anfällig gegen rechtspopulistische Bewegungen sind. Da müssen wir nicht in die USA schauen. 2017 erhielt Geert Wilders in den Niederlanden 13,1 % der Wählerstimmen, der Front National in Frankreich 12,2 % und für die noch in diesem Jahr stattfindende Wahl in Österreich werden der FPÖ aktuell sogar 24 % prognostiziert. Hier bewegt sich die AFD mit 12,6 % im europäischen Kontext durchaus unauffällig, auch wenn man eine derartige Rückwärtsgesinnung Deutschland noch immer übler nehmen mag als den Nachbarn. Ein Drama ist eine AFD als drittstärkste Fraktion nicht! Auch kein Anlass für andere Parteien „rechte Flanken zu schließen“. Es gab immer und es wird immer geben Bürger, die sich abgehängt und unbeachtet empfinden, die anfällig sind für rechts- oder linkspopulistische Rattenfänger, anfällig für Appelle an Wut, Angst, Diffamierung und postfaktische Vergewaltigung von Wahrheit und Geschichte. Die „Spiel nicht mit der Schmuggelkindern“-Taktik der etablierten Parteien war schon immer falsch, eine einfältige Ignorierung real bestehender Befindlichkeiten im Wählerspektrum. Jetzt haben sie die Gelegenheit und die demokratische Pflicht, sich offensiv im Bundestag mit dieser neuen Fraktion und deren alten Ideen auseinanderzusetzen, diskursiv, entschieden in der Sache, aber unter Meidung stilistischer Anpassung an den politischen Gegner. Die überwiegende Mehrheit der Wähler wünscht auch weiterhin ihre gewohnte Kanzlerin. Persönlich ist sie deutlich weniger eingebrochen als die sie tragenden Volksparteien. Für die AFD ist Merkel Hassobjekt und Existenzbegründung zugleich. Ihrer Wähler waren nicht wirklich für die AFD sondern gegen Merkel. 60 % der AFD-Wähler gaben an, nicht aus Überzeugung, sondern aus Enttäuschung ihr Kreuz gemacht zu haben. Über 90 % der AFD-Wähler machen sich Sorgen um den Verlust der deutschen Kultur. Seit der Wahl sind zwischenzeitlich mehr als 2 Wochen vergangen. Von „wir haben verstanden“ wenig Spur. Die Kanzlerin äußert noch am Wahlabend mit schmerzhaften Realitätsverlust, sie wisse gar nicht, was sie in der Vergangenheit hätte anders machen sollen. Die SPD hat sich zur gleichen Zeit bereits auf die Oppositionsbank verabschiedet, um die Wunden der viel zu langen großen Koalition zu lecken. Die AFD hat nicht zu verstehen, außerdem diabolisch getimten Abschied ihrer Parteivorsitzenden. Ein Wahlergebnis, das nach Aufbruchstimmung ruft. Aber erst einmal wollen wir noch die Ernte oder Missernte unserer alten Politik in Niedersachsen einfahren? Die Sondierungsgespräche haben noch nicht einmal begonnen, aber das Stühlerücken ist wenigstens schon einmal in vollem Gange. Der Finanzminister wird vorsorglich in das ehrenwerte Amt des Bundestagspräsidenten gelobt, um Platz für Begehrlichkeiten der Liberalen zu machen, die ihn im Amt beerben wollen. Der Außenministerposten wird ohnehin nur noch interimistisch wahrgenommen. Gut für die Grünen. Und die SPD leidet still unter der dramatischen Reduzierung der zu vergeben Posten. Da muss dann schon einmal die eine oder andere der Partei nahestehende Stiftung herhalten, die dringend neues Führungspersonal brauchen.

Visionen? Die hat in Europa und für Europa derzeit vor allem Emmanuel Macron. Festlegung auf Schmerzgrenzen, jenseits deren der Platz auf den Oppositionsbänken winkt? Fehlanzeige. Wer sich zuerst bewegt, der verliert. Die politische Mehrheit aber auch wir Wähler selbst sollten es mehr mir mit Albert Einstein halten, den ich zum Schluss zitieren möchte: „Die Welt wird nicht bedroht von Menschen, die böse sind, sondern von den Menschen, die danebenstehen und sie gewähren lassen.“ und: „Mehr als die Vergangenheit interessiert mich die Zukunft, denn in ihr gedenke ich zu leben.“

 

 

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Wolfgang Heilmann - Befindlichkeiten vor und nach der Wahl
Der Impulsvortrag zum Nachlesen
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